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Neuer Lesestoff

Die besten Bücher des Monats

Hier finden Sie den gut sortierten Lesestoff, den unsere Literaturredaktion empfiehlt.

Kulturredaktion
Aktualisiert am 27. März 2023

Bild ohne Mädchen

Sarah Elena Müller. Limmat-Verlag, 2023.
Roman
Foto: Keystone
Der Vater interessiert sich für bedrohte Tierarten, die Mutter für ihre Kunst. Für ihre Tochter interessieren sie sich nicht wirklich. Der Nachbar hat aber viel Zeit, das Mädchen wird von ihm gesehen, bei ihm darf sie TV schauen, was zu Hause verboten ist. Das Mädchen ist oft beim ihm, wo sie dann Opfer sexualisierter Gewalt wird. Das Romandebüt der Bernerin Sarah Elena Müller kreist um das Thema der Langzeitwirkungen von kindlichem Missbrauch. Dafür hat die Autorin sich mit Schuldkonzepten befasst und mit Tätern gesprochen. Und sie findet, mit Verlaub, eine erschütternd brillante Sprache für die Sprachlosigkeit. Ihr literarischer Ton hat die Wirkung, dass man beim Lesen nicht wegschauen kann. Anmut, intellektuelle Präzision und eine ungeheuerliche Sprache verbinden sich hier zu einer Fusion der ganz eigenen Art. (zuk)
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Wir hätten uns alles gesagt

Judith Hermann. Fischer-Verlag, 2023.
Erzählungen
Foto: Jonas Ekströmer
Wer Judith Hermanns präziser Sprache für das Schwebende im Zwischenmenschlichen verfallen ist, wird von ihrem neuen Buch hell begeistert sein. Kaum eine deutsche Autorin schreibt so, ja, geradezu herzzerreissend ohne Pathos über Sehnsucht, Bindungen und deren Versuche und über solche Figuren, die sich aus der Welt ins Alleinsein zurückziehen. Und jetzt, das ist eine Premiere, öffnet die Autorin in der Frankfurter Poetikvorlesung eine Tür zu ihrem eigenen Leben. Es wird einem nun auch klarer, woher der Hermann-Sound vermutlich herkommt. Als Kind konnte sie nie andere Kinder nach Hause einladen, denn «Die Tür zu der Wohnung, in der ich aufgewachsen bin, zu öffnen, bedeutete, im Geheimnis zu stehen.» Ihr neues Buch übertritt eine Schwelle in einen Hermann-Text von überraschender Dichte und Kraft. Sie erzählt vom kranken Vater, der Grossmutter und auch, dass die Ahnungen in diese Zeit und zur schwierigen Familie zurückführen, die ihr Werk durchziehen. «Das Verschweigen des Eigentlichen» sei das, was ihrem Gesamtwerk zugrunde liege. (zuk)
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Die Bäume

Percival Everett. Aus dem Englischen von Nikolaus Stingl. Hanser, München 2023.
Roman
Foto: Nacho Goberna
Zwei schwarze Polizisten kommen in das Südstaatenkaff Money, um seltsame Morde an Weissen aufzuklären. In jenem Money wurde 1955 der 14-jährige Emmett Till ermordet, es war einer der schrecklichsten Fälle von Lynchverbrechen und eine Initialzündung für die schwarze Bürgerrechtsbewegung. Seltsam: Neben den weissen Leichen liegt jeweils ein mausetoter, altmodisch gekleideter Schwarzer, der dann wieder verschwindet. Ist Emmett Till zurückgekommen, um sich zu rächen? US-Autor Percival Everett geht das Thema des immer noch notorischen Rassismus in den USA auf unkonventionelle Weise an, in einer geradezu kruden Mischung aus Komik, Horror und tiefer Trauer. Er holt den historischen Fall in die Gegenwart, packt ihn in einen Krimiplot, der ins Absurde dreht, stülpt die Zuschreibungen von schwarz und weiss um, entwirft eine beängstigende Rachefantasie und erzeugt mit all dem ein Lachen, das tief hinten im Hals stecken bleibt. (ebl)
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The Displacements

Bruce Holsinger. Riverhead Books, 2022. Nur Englisch.
Roman
Foto: Keystone
Eigentlich ist ein Wirbelsturm der Kategorie 6 gar nicht vorgesehen, die Messskala für das Gefährdungspotenzial geht bis 5. Aber dafür haben wir ja die spekulative Literatur, Subgenre Climate Fiction, kurz «Cli-Fi». US-Autor und Englischprofessor Bruce Holsinger lässt in «The Displacements» einen Hurrikan von ungeahnter Stärke auf Florida zurasen, dieser zerlegt Miami und verwüstet den südlichen Teil des Gliedstaates. Die Künstlerin Daphne – viel Geld, bisschen schlechtes Gewissen – flüchtet mit ihren zwei Kindern und dem zynischen Teenager-Sohn aus der früheren Ehe ihres Mannes Brantley in eine Massenunterkunft in Oklahoma. Unterwegs verliert sie ihre Kreditkarte, später erfährt sie auch, warum ihre Konten leer geräumt worden sind. In diesem Roman erfasst also die Klimakatastrophe die weisse mittlere Oberschicht, verweht Status und Geld, die Leserschaft muss sich mit den Figuren ja auch identifizieren können. Wirklich aufregend ist das nicht, aber «The Displacements» funktioniert durchaus als ein weiteres Beispiel für klimatologische Horrorszenarien, die in der Zukunft spielen, aber schon jetzt nicht mehr unvorstellbar wirken. (blu)
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Lucy by the Sea

Elizabeth Strout. Viking, 2022. Nur Englisch.
Roman
Foto: Marco Destefanis
In der letzten Märzwoche 2020 geht New York in den Lockdown. Kurz davor hat Lucy sich noch die Haare machen lassen, die Pandemie nimmt sie nicht so ernst. Ihr Ex-Mann dagegen, ein Naturwissenschaftler, schon. Er spediert darum sich und Lucy, seine – vor einem Jahr in zweiter Ehe verwitwete – Ex-Frau, nach Maine, in ein abgelegenes Häuschen an der Küste, ungefähr dorthin, wo ihre Schöpferin Elizabeth Strout heute lebt. Wie sich die beiden da einander wieder annähern, wie sie die eigene Endlichkeit reflektieren, wie sie aus der Ferne, aber in Herzensnähe die Schicksale ihrer zwei erwachsenen Töchter und des ganzen pandemisch-trumpischen Landes verfolgen: Das schildert die 67-jährige Pulitzerpreis-Trägerin in «Lucy by the Sea» auf leise, nuancierte, detailkluge Weise. Sie spiegelt damit das Erleben vieler – privilegierter – Menschen wider, die sich selbst und ihren Alltagstrott im globalen Corona-Hiatus auf einmal genau unter die Lupe nahmen, samt allen scheinbaren Selbstverständlichkeiten. «We are all in lockdown, all the time. We just don’t know it», stellt Lucy fest; die alternde Alter-Ego-Schriftstellerin hat während der Pandemie eine Schreibblockade und findet nur langsam den Weg hinaus. Strout wiederum, eine Klassismusexpertin mit psychologischem Fingerspitzen- und stilistischem Understatementgefühl, hat ein grossartiges, inniges Pandemiebuch geschaffen. (ked)
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Übeltäter, trockne Schleicher, Lichtgestalten. Die Möglichkeiten der Literatur.

Peter von Matt. Hanser, München 2023.
Aufsätze
Foto: Keystone
Der dreifaltige Titel bezieht sich auf das schillernde Bild des Wissenschaftlers in der Literatur, das unsere eigene Unsicherheit gegenüber der forschenden Spezies erkennbar macht. Peter von Matt ist selbst Wissenschaftler, Literaturwissenschaftler, und er vertritt sein von manchen als «Laberfach» geschmähtes Metier mit Selbstbewusstsein und mit der gewohnten Brillanz. Anders als die Spezialdisziplinen nämlich behandle die Literatur den ganzen Menschen, und was die Dichter sagten, sei alles andere als vage, sondern, bis hin zur Metapher, äusserst exakt. In den in diesem Band gesammelten Aufsätzen und Reden aus den letzten Jahren geht es um Dummheit und Gerechtigkeit, um Shakespeare und den «Struwwelpeter», um ein entlegenes Fragment von Kleist und immer, wie der Untertitel sagt, um «die Möglichkeiten der Literatur». Diese erweisen sich, ergründet von einem tief schürfenden, aber immer klar und geradezu vergnüglich argumentierenden Autor, als nahezu unendlich. (ebl)
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Melody

Martin Suter. Diogenes-Verlag, 2023.
Roman
Foto: Dominique Meienberg
Im neuen Buch des Schweizer Autors blickt ein alter, mächtiger Mann auf seine grosse Liebe zurück und versucht eine Lebenslüge aufrechtzuerhalten: ein Suter in Bestform. Alt-Nationalrat Peter Stotz lebt am Zürichberg mit seiner Melody. Sie ist anwesend auf einem Ölbild oder in Altarnischen zwischen den Bücherregalen mit Fotos. Sie war seine grosse Liebe und verschwand vor 40 Jahren, drei Tage vor der Hochzeit. Darüber ist er nie hinweggekommen. Jetzt ist der junge Jurist Tom bei Dr. Stotz eingezogen und soll den Nachlass der grauen Eminenz ordnen. Und stösst dabei auf einige Ungereimtheiten. Was hinterlassen wir – und welche Geschichten müssen erzählt werden? Und was soll verschwiegen bleiben, damit wir schlussendlich so dastehen, wie es am vorteilhaftesten scheint? Geld hilft da natürlich. Aber reicht es, um eine Lebenslüge aufrechtzuerhalten? Am Zürichberg lässt Martin Suter jetzt bei gutem Essen die bürgerliche Welt untergehen. Mit «Melody» bekommt Suters Leserschaft, was sie kennt: eine überzeugend konstruierte Geschichte, dazu das sutersche Geheimnis, erzählt mit dramaturgischer Wendigkeit. (zuk)
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First Time for Everything

Henry Fry. Orion Fiction, 2022. Nur Englisch.
Roman
Foto: Keystone
«Handelt es sich um eine monogame Beziehung, Schätzchen?», fragt die medizinisch-technische Assistentin, während ihre gummibehandschuhten Hände an Dannys Hoden herumdrücken. «Natürlich», quetscht der heraus und bedauert schon jetzt, dass er sich für einen Check-up in die Klinik gewagt hat. Obwohl er da noch nicht weiss, was dadurch alles ins Rollen kommt. Danny, 27, schwul und wie sein Schöpfer aus dem Südwesten Grossbritanniens, lebt in einer WG in London, schreibt für ein Ausgeh-Magazin Click-Bait-Texte und ist ein Mauerblümchen mit Angststörung. Wie sich der junge Mann aus seiner seelischen, beruflichen und privaten Sackgasse herauswurstelt, erzählt Fry auf 400 meist seidenglatt-süffigen, immer wieder superwitzigen, ab und an auch superberührenden Seiten. Fry wurde bereits als eine der neuen literarischen LGBTQ+-Stimmen ausgezeichnet, und 2022 hat er mit seinem Romandebüt «First Time for Everything» charmiert. Das Buch ist Teil der neuen LGBTQ-Romcom-Welle – und mehr: Flockig dockt es an die aktuellen Diversity-Diskurse an, spielt nonchalant mit angesagten kulturellen Referenzen, lässt seinen Helden aber auch durchs düstere Tal der Depression ziehen. Dass am Ende eine grosse Freundschaft doch noch gerettet wird und eine grosse Liebe winkt, während man uns küchenpsychologische Tagebuchzeilen serviert: Das verzeiht man gern. (ked)
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Glück im Unglück. Wie ich trotz schlechter Nachrichten optimistisch bleibe.

Constantin Schreiber. Hoffmann & Campe, Hamburg 2023.
Sachbuch
Foto: M. Wehnert
News Fatigue, der Begriff umschwirrt uns derzeit in ermüdender Regelmässigkeit. Krisen, Kriege, Seuchen, der Lauf der Welt halt. Nicht ganz zu Unrecht, schreibt zumindest Constantin Schreiber. Und wer soll es denn besser wissen als er: Moderator der deutschen «Tagesschau», Berichterstatter im In- und Ausland, politischer Buchautor. In «Glück im Unglück – Wie ich trotz schlechter Nachrichten optimistisch bleibe» denkt Constantin Schreiber über Optimismus in einer in Schieflage geratenen Welt nach. Er erklärt, wie er es schafft, in krisengeschüttelten Zeiten Oberwasser zu behalten (mit Musik!) und wie er es angeht, sowohl das Weltgeschehen als auch das eigene Wohlbefinden nicht aus den Augen zu verlieren (mit reduziertem, gezieltem Konsum). Schreiber begibt sich auf eine Reportagereise dem Glück hinterher, tauscht sich mit Therapeutinnen aus und beschäftigt sich mit Psychologie. Und seinen Überlegungen als «Tagesschau»-Moderator zur nachrichtlichen Dauerbeschallung aber kann auch eine breite Leserschaft etwas abgewinnen. (mmr)
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Verbunden. Wie du in digitalen Zeiten wieder Platz schaffst für Dinge, die dir wirklich wichtig sind.

Anna Miller. Ullstein, Berlin 2023.
Sachbuch
Foto: Peter Hauser
Wir haben uns einen ungesunden Umgang mit digitalen Geräten angewöhnt, das sagt die Zürcher Autorin und Mental-Health-Aktivistin Anna Miller. Wir lassen uns im Alltag von Benachrichtigungen unterbrechen und versinken in kopflosem Scrollen auf Social Media – womit wir letztlich daueraktiviert sind und zu wenig Zeit für echte Begegnungen und Tätigkeiten haben. Millers Buch ist zweigeteilt: Der erste Teil ist eine Auslegeordnung, in der die Autorin aufzeigt, was der digitale Nonstop-Konsum mit uns macht, weshalb wir «falsch verbunden» sind. Darauf folgt in Teil zwei eine konkrete Hilfestellung. In zehn Kapiteln gibt Miller Tipps, wie wir das Digitale im Alltag behalten und zugleich mehr Platz für Offline-Erlebnisse schaffen. Zu jedem Punkt gibt es Übungen und Checklisten – wer sich darauf einlässt, wird seine digitalen Gewohnheiten zwangsläufig hinterfragen. Dabei ist Miller nie belehrend, sondern konstruktiv. Es brauche eine kritische Masse, um einen achtsameren Umgang mit Smartphone und Laptop zu etablieren, sagt Miller. Dieses Buch bietet einen Anfang. (fim)
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